Samstag, 1. August 2015

Urban Exploration in Sachsen – Die Geschichte eines Hauses



Es ist längst keine Neuigkeit mehr, dass es überall auf der Welt verlassene Häuser, Siedlungen, Dörfer und sogar Städte gibt. Zu den bekanntesten „Geisterstädten“ zählen sicherlich Tschernobyl, das museal betriebene Goldgräberstädtchen Bodie in Kalifornien, die japanische Insel Hashima oder die zypriotische Stadt Varosia. Ob nun Detroit die Megageisterstadt der nahen Zukunft wird, wird sich zeigen, sie hat aber gute Karten bei dem enormen Einwohnerschwund der letzten Jahre. Auch in Europa, zum Beispiel in Italien, gibt es viele einsame Dörfer, deren Aufrechterhaltung für die Regierung keinen Sinn mehr ergab. Tausende Menschen wurden in neue Wohngebiete umgesiedelt. Ihre Heimat wird nun der Natur überlassen.

Zurückgelassen werden aber keinesfalls nur Häuser, Parkanlagen und Straßenzüge, sondern auch Dinge des Alltags, die dem heute menschenleeren Ort einst Leben und Seele einhauchten, da sie zu Individuen gehörten, die mit ihrer Existenz ihre Heimat mitgestalteten, prägten, entwickelten. Und genau das ist sicher einer der größten Reize an Urban Exploration: Die Dokumentation intimer Überbleibsel (von einem zerfledderten Schuh bis hin zu einer verstaubten Schulbank), die gezielte Suche nach Spuren, die die Nutzung der verlassenen Orte erahnen lässt. Auch eine Investmentruine kann uns eine Geschichte erzählen, aber von Menschen über Generationen bewohnte oder genutzte Gebäude werfen bei Weitem mehr Fragen auf. Wer waren die Leute, die hier gelebt haben, ging es ihnen gut, was hat sie bewegt zu gehen? 

Der Anspruch der Urbex ist einerseits, diese Orte vor dem Vergessenwerden zu bewahren und andererseits ihre Stimmung zu konservieren, indem man sie filmt oder fotografiert. Aber selbst wenn die Kamera ausbleibt, man reiner Beobachter ist, üben verlassene Orte eine extreme Anziehungskraft aus. Die dem Menschen seit Anbeginn inhärente Neugierde kann an diesen Orten mehr als befriedigt werden – plötzlich darf man Mäuschen spielen, Schubladen öffnen, in eine fremde Privatsphäre eintauchen. Forschen und fabulieren. 

Bisher habe ich mich nur passiv mit Urban Exploration auseinandergesetzt, fasziniert über Geisterstädte gelesen, Fotos bestaunt und unzählige Youtube-Videos geschaut. An einem sonnigen Maisonntag unweit der tschechischen Grenze wurde ich dann aktiver Explorer. Ich stieß auf ein altes Häuschen inmitten eines kleinen Dorfes und die Reise begann.

Das Haus steht, nach dem Zustand der Außenfassade und dem Grad des Verfalls zu urteilen, schon längere Zeit leer. Die zwei Etagen sowie der Dachboden sind fast vollständig möbliert und voller persönlicher Gegenstände. Essbares und Medikamente mit Mindesthaltbarkeitsdatum lassen darauf schließen, dass das Haus schon mehr als zwanzig Jahre verlassen sein muss. So zum Beispiel Erdnüsse 11/1990, Tabletten 02/1992. Ein noch hängender Kalender zeigt 07/1991. 

Das Bauernhaus weist kaum Spuren von Vandalismus auf, nur hin und wieder scheint es nach Wertgegenständen durchsucht worden sein. Die Einrichtung, einige schimmelige Fotografien und Postkarten, an L. und G. adressiert, lassen darauf schließen, dass wohl ein älteres Ehepaar das Haus bewohnte. Wenn es Kinder gab, dann sind diese nicht in die ostdeutschen Großstädte, sondern in den damaligen Westen gegangen. Zumindest weisen einige Westprodukte und Post von vor der Wiedervereinigung daraufhin, dass es Kontakte ins „kapitalistische Ausland“ gab. Die Eltern verstarben, keiner kümmerte sich um den Nachlass, was auch typisch für die Zeit der frühen 1990er ist. Wer wollte die schweren DDR-Möbel, die schlechten Stoffe, das billige Geschirr? Das wunderschöne Bauernhaus mit angrenzender Scheune sollte keinen neuen Besitzer finden. Die Perspektivlosigkeit auf dem Land –- ein immer noch existierendes Problem. Wenn es Verwandte gab, wollten diese scheinbar keine Verantwortung für eine Immobilie in einer knapp 2000-Seelen-Gemeinde. 

Es fiel mir nicht leicht, das Haus wieder zu verlassen. Die Geschichten, die es verbirgt, sind längst nicht alle erzählt. In jedem Raum durchdrang mich ein Gefühl von Schwermut. Die meisten Dinge, die sich noch im Haus befinden, sind heute nutzlos, wertlos, uninteressant, aber einmal hatten sie eine immense Bedeutung für jemanden. Wer weiß schon, wie viele Tränen hinter der Brille, die ich liegen sah, versteckt wurden, wie mühsam die Arbeit in der Scheune war, wie sehnsüchtig Post von den Kindern erwartet wurde? Nur L. und G. 


















































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