Sonntag, 26. Januar 2020

Erinnerung. Dresden Neustadt.

Rädchen im Getriebe

Wenn früh die Wärmflasche noch warm ist, war die Nacht zu kurz. Es ist Mittwochmorgen, ziemlich kühl für die Jahreszeit, grau und das Schlimmste: Liegengebliebene Arbeit schreit danach, endlich erledigt zu werden. Kaffee ist genau wie Klopapier Mangelware in der kleinen WG, in der ich lebe. Ich muss raus, sonst verschlingt die Bettdecke meinen Tag. Noch ein wenig unkoordiniert stürze ich auf die Straße. Mein erster Gedanke: Combo. Da gibt es Ruhe, Espresso und Klopapier. 
Spätestens auf der Louisenstraße hebt sich die Stimmung. Während ich laufe und noch halb träume, sehe ich mich bereits im Raucherbereich des Cafés sitzen. Im Schneidersitz mit Espresso und dünn gedrehter Zigarette; mein bester Freund, dessen Leuchtapfel Reklame macht, vor mir. Das Telefon liegt ruhig und irgendwie bescheiden daneben und klingelt zum Glück gerade einmal nicht. Ich sehe mich dasitzen mit abgenutzten Sachbüchern über David Hume oder Sozioonomastik, die ich oft tagelang mit mir herumschleppte und trotzdem nicht dazu komme, länger als fünf Sekunden in sie hineinzulesen. Ich sehe mich dasitzen mit einer alten, etwas zerfledderten FAS, deren Schlagzeilen ich ein bisschen zu desinteressiert überfliege. Ich verachte Menschen, die die ZEIT abonnieren und sie zwei Wochen später ungelesen ins Altpapier geben, aber bin ich wirklich besser? Am Ende will ich nur die Quadratortur, um danach die Menschen zu bewundern, die sich diese ekelhaft kniffeligen Denkspielchen aus den Fingern saugen. 
Ich finde glücklicherweise einen gemütlichen Platz im Inneren des Cafés. Die brünette Kellnerin bewegt sich flinkfüßig und lächelnd zu mir rüber. Der Espresso duftet, der Glimmstängel glüht. Ich lehne mich zurück und keine Sekunde später schreit das Telefon auf. Smalltalk via Kurznachricht. Das reicht als Kommunikation für den Morgen. Jede weitere Info würde meinen Kopf sprengen. Das andere Endgerät ist hochgefahren. Ständig poppt das Telekom-Fenster auf, will mir WLAN andrehen. Los, logg dich ein, kein Internet, ich bitte dich, das geht doch nicht. Check deine Mails. Informier dich über Neuigkeiten! Ich surfe, also bin ich. Nein. Warum bin ich so erschöpft, frage ich mich, während mir ein bisschen schwummrig wird nach der ersten Zigarette des Tages. Vielleicht war es das Blue Note heute Nacht und das eine Bier zu viel. Vielleicht ist es mein Job. Ich arbeite als Kalender mit integriertem Telefon für einen Musiker. Ich vermittle zwischen ihm und Bühnen, zwischen ihm und Veranstaltern, zwischen ihm und seinen Kollegen. Ich bin sein Fleisch gewordener Terminplaner. Für jemanden denken, bedeutet seine Abläufe zu kennen, für ihn zu entscheiden, für ihn zu handeln, in seinen Kopf einzudringen. Die Fähigkeit, sich zu organisieren, verlangt mir schon manches Mal viel ab, aber zwei Leben koordinieren und planen – geht das überhaupt? Nebenbei lernt man auch die Privatperson, das Individuum, vielfältig und vielbeschäftigt im Übrigen, hinter dem professionellen Musiker kennen. Wer bist du und wie viel gibst du mir von dir preis? Deine Unterschrift, deine Bankdaten, dein WLAN-Code, deine E-Mails, deinen Beziehungsstatus, dein Vertrauen. Deine Kontakte sind meine Kontakte. Das sprengt meinen Kopf, geringfügig. Und nun sitze ich hier und bearbeite deine Termine, übermüdet und dennoch zufrieden. Nach fünf Telefonaten, mehreren E-Mails, einem neuen Facebook-Post auf deinem Account und der Aktualisierung deiner Homepage soll es für heute getan sein. 
Mittlerweile geht es gegen Mittag, hier drin ist es ziemlich schattig und mein Herz schlägt holprig vom Espresso. Ich geh also raus, lass mir die schüchterne Sonne ins Gesicht scheinen und inhaliere die kühle Luft des noch immer jungen JahresPlötzlich muss ich lächeln über all das, über mich, über die Menschen, die neben mir sitzen mit ihren Tablets, starken Mokkas und Schlafsand in den Augen und bin froh ein Teil dieses Räderwerks, dieser Neustadt, dieses Combos zu sein.

Ein anderer Tag, aber ein ähnliches Gefühl. Café Combo, Dresden.


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